0

Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst

Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008

Erschienen am 15.07.2012, 1. Auflage 2012
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783534254545
Sprache: Deutsch
Umfang: 224 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 22 x 14.5 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Ludwigsburg ist in der Welt und in der Gemeinschaft der Zeithistoriker bekannt durch die 'Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung'. 1958 begründet, sollte sie die juristische Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen bündeln. Heute gilt die Zentrale Stelle als diejenige Einrichtung, welche sich innerhalb der Bundesrepublik am kontinuierlichsten und nachhaltigsten der Aufarbeitung von NS-Unrecht gewidmet hat. Mit den von ihr angestoßenen Strafprozessen hat sie einen zentralen Beitrag zur Herausbildung eines pluralistischen Geschichtsbewusstseins geleistet und dadurch den demokratischen Wandel in Nachkriegsdeutschland befördert. Sie beherbergt das größte Archiv zu NS-Verbrechen und seit einigen Jahren eine Forschungsstelle der Universität Stuttgart. Die Historikerin Annette Weinke schreibt die Geschichte der Zentralen Stelle, untersucht ihre Bedeutung für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen und die gesellschaftlichen Auswirkungen, die davon ausgingen. Dabei wird ihre herausragende Bedeutung als eine Zentralinstitution des westdeutschen Demokratisierungsprozesses deutlich.

Autorenportrait

Annette Weinke, geb. 1963, war Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der 'Arbeitsgruppe Regierungskriminalität' der Staatsanwaltschaft II am Landgericht Berlin, Promotion 2001, seit Ende 2002 Dozentin für das 'Berlin European Studies Program (FU-BEST)'; seit Juni 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ludwigsburg. Wichtigste Publikationen: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 - 1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg (2002); Die Nürnberger Prozesse (2006).

Leseprobe

3. Neuorientierung bei den NS-Ermittlungen (1964 - 1966) 3.1 Ende der NS-Ermittlungen? Die Verjährungsdebatte 1964/65 'Unter den zahllosen öffentlichen Debatten, die seit Gründung der Bundesrepublik über den vermeintlich richtigen Umgang mit der NS-Vergangenheit geführt wurden, ragt die Verjährungskontroverse von 1964/65 als Markstein hervor. Dies lag zum einen an der neuartigen Offenheit und politischen Ernsthaftigkeit, mit der am 10. und erneut am 25. März 1965 unter den Augen der Weltöffentlichkeit im Bonner Bundestag über eine Verlängerung der regulären Verjährungsfrist für Mord gestritten wurde. Dies war aber zum anderen auch dadurch bedingt, dass sich die Auseinandersetzung über diese Frage binnen eines Zeitraums von weniger als einem Jahr von einem scheinbaren juristischen Spezialproblem zu einem Politikum von internationaler Bedeutung entwickelte. Während sowohl die NS-Ermittlungen als auch die Anfang der 1960er Jahre beginnenden NS-Prozesse bis dahin kaum öffentliche Resonanz entfaltet hatten, fand die Verjährungsdebatte unter reger Anteilnahme von Vertretern nationaler und internationaler Medien, Vereinigungen von NS-Verfolgten, jüdischen Organisationen, Wissenschaftlern, Justizjuristen, Diplomaten und Parlamentariern aller großer Parteien statt. Gewisse Zurückhaltung zeigten lediglich die Historiker, die sich in dieser Kontroverse wenn überhaupt, dann nur verhalten und auf ausdrückliche Aufforderung hin äußerten. Obgleich sich mit Beginn des Auschwitz-Prozesses im Dezember 1963 ertmals die Möglichkeit eines engeren Austauschs zwischen Strafjustiz und Geschichtswissenschaft bei der Aufarbeitung der Geschichte des Judenmords angedeutet hatte, schienen die Zeithistoriker in dieser für das bundesdeutsche Selbstverständnis überaus wichtigen Diskussion dennoch zu keinem eigenen Standpunkt zu finden. Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass die Aufmerksamkeit der westdeutschen Geschichtswissenschaft von einer anderen Schlüsseldebatte (Edgar Wolfrum) abgezogen wurde, die seit 1961 aufgrund der Thesen von Fritz Fischers umstrittenem Buch Griff nach der Weltmacht in Gang gekommen war, und die 1965 auf dem XIII. Internationalen Historikerkongress in Wien ihren Höhepunkt finden sollte. Womöglich hing dies aber auch damit zusammen, dass die um kritische Selbstaufklärung bemühte Zeitgeschichtsforschung, wie sie insbesondere Nachwuchsforscher des Münchner Instituts für Zeitgeschichte zu dieser Zeit vermehrt betrieben, sich ihre gesellschaftliche Akzeptanz überhaupt erst noch erwerben musste. Insofern kooperierte man zwar auf den Ebenen der Faktenerhebung und der historischen Kontextualisierung mit den Ermittlungsbehörden, legte aber ansonsten Wert auf eine deutliche Abgrenzung zwischen historischer und juristischer Profession.'