Beschreibung
Seit Kains Mord an Abel ist das Thema Schuld und ihre Bewältigung für die Kulturund Sozialgeschichte prägend. Schuld wird zugeschrieben, angeklagt, geleugnet, vergolten, bestraft, vergeben, vergessen, aufgearbeitet und vieles mehr. Der Band nimmt individuelle und kollektive Umgangsweisen mit Schuld aus der Sicht verschiedener Disziplinen in den Blick. So entsteht ein breites Panorama der Bedeutung von Schuld in der Gegenwart. Nicht zuletzt werden geläufige Wertungen – etwa: Vergebung sei grundsätzlich besser als Rache – infrage gestellt.
Autorenportrait
Dr. Thorsten Moos, Physiker und Theologe, ist Leiter des Arbeitsbereichs Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg.
Dr. Stefan Engert, Politikwissenschaftler, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster Normative Orders, danach Ergänzungsprofessor an der Universität Konstanz und ist seit April 2015 stellvertretender Leiter der Fachgruppe Krisenprävention und -koordination am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin.
Rezension
»Es ist gelungen, vielfältige sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven fächerübergreifend zusammenzufügen und neue Einsichten in ein komplexes Thema zu ermöglichen.« Elisabeth Vanderheiden, socialnet.de, 08.02.2017
Leseprobe
Vorwort Klaus Günther Schuld und Verantwortung sind nicht nur Schlüsselbegriffe im öffentlichen Diskurs moderner Gesellschaften über individuelles und kollektives Unrecht, sondern sie leiten auch eine formalisierte oder informelle Praxis an, in der Individuen oder Kollektive für dieses Unrecht zuständig gemacht werden und die Folgen zu tragen haben. Nahezu jedes Ereignis, das durch menschliche Handlungen zumindest mit herbeigeführt wurde, und das zumindest für einige Betroffene Schädigungen oder andere Nachteile hervorbringt, lässt den Ruf nach einem oder mehreren Schuldigen oder Verantwortlichen laut werden. Dies gilt für Klimawandel, Finanz- und Schuldenkrisen, kollabierende Atomkraftwerke mit unübersehbaren schädlichen Folgen ebenso wie für vergangene oder aktuelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Regierungen oder Bürgerkriegsparteien, für entgleisende Züge oder einbrechende Dächer von Sporthallen, aber auch für die vielen alltäglichen kleineren oder größeren Delikte und die noch größere Zahl von kleineren oder größeren Verletzungen unterschiedlicher Art, die Menschen einander zufügen. Freilich folgt in den meisten Fällen auf den Ruf nach einem Schuldigen ein Streit, bei aufsehenerregenden Fällen auch eine öffentliche Kontroverse über die Frage, wer der Schuldige sei und, vor allem, nach welchen Kriterien und Normen Art, Umfang und Grad der Schuld zu bestimmen sei. An diesen Debatten ist keineswegs nur das Rechtssystem beteiligt; zuweilen wird gerade der rechtliche Zugriff auf die Schuldfrage kritisiert und um moralische, religiöse und andere Aspekte erweitert. Auch wird aus der Perspektive empirischer Forschung, der Sozialwissenschaften, aber in jüngster Zeit auch der Natur- und Lebenswissenschaften bezweifelt, dass es so etwas wie >Schuld< im Sinne eines Unrechttuns trotz vorhandener Möglichkeit und Freiheit des Anders-handeln-Könnens überhaupt geben könne, ob der Mensch in seinem Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht durch die vorangegangenen Zustände und die aktuelle Situation in einem so hohen Maße determiniert sei, dass er keine Wahl mehr habe. Schließlich kann aus einer distanzierten Perspektive auch gefragt werden, ob der prominente Status des permanenten Diskurses über Schuld und Verantwortung nicht eine spezifische, aber eben auch kontingente Eigenart der okzidentalen Kulturen sei, ob dies nicht die Folge eines Regimes der Subjektivierung des Menschen sei, die funktional für eine kapitalistische, marktwirtschaftlich organisierte Kommunikations-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sei. Der vorliegende Sammelband zu verschiedenen Umgangsweisen mit Schuld ist eine forschungsfeldübergreifende Projektinitiative, die aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Clusters Die Herausbildung normativer Ordnungen in Frankfurt/Main mit der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg entstanden ist. Auf diese Weise ist es gelungen, eine Vielzahl an geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammenzubringen, die sich explorativ der Klärung eines wesentlichen heuristischen Leitbegriffs - hier Schuld - aus verschiedenen wissenschaftlichen Zugängen nähern. Unter dem weiteren Begriff der >Verantwortung< werden Fragen der Zurechnung und der Reaktion auf Verletzungen normativer Ordnungen sowie die Frage nach der Angemessenheit individualisierender Zuschreibungen auch in anderen Projektinitiativen immer wieder untersucht. Der Band zeichnet sich durch einen fächerübergreifenden Blick auf das Thema Schuld aus. Die Beiträge untersuchen in ihrer Gesamtheit einen elementaren Grundbegriff normativer Ordnungen und führen diese Analyse aus der Sicht und im Wechselspiel unterschiedlicher geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlicher Disziplinen durch. Das Ergebnis dieses Zusammenspiels ermöglicht den Leserinnen und Lesern, einen systematisch-vergleichenden sowie multi-disziplinären Blick auf das zu verstehende Phänomen Schuld. Dabei w
Inhalt
Inhalt
Vorwort
Klaus Günther 9
Vom Versuch, die Freiheit zu reparieren: Praktiken des Umgangs mit Schuld in multidisziplinärer Perspektive
Thorsten Moos/Stefan Engert 13
Der Umgang der Opfer mit Schuld
Vom Umgang mit Rache im Alten Testament: Rechtliche, moralische und religiöse Grenzziehungen
Jan Dietrich 39
Rache und ihre Beziehung zu Strafe und Vergebung aus psychologischer Perspektive
Arne Sjöström/Judith Braun/Mario Gollwitzer 51
Was tun, wenn ich verletzt bin? Wege zur Vergebung
Martin Grabe 69
Vergebung und Sühne: Zum religiösen Umgang mit Schuld
Thorsten Moos 89
Der Umgang der Täter mit Schuld
›Schuld fühlen‹: Das Schuldgefühl aus emotionspsychologischer und verhaltenstherapeutischer Perspektive
Fanja Riedel-Wendt 117
Psychotischer Umgang mit Schuld: Schuldgefühle in der schweren Depression
Stefano Micali 139
Verstrickung durch Selbstbestimmung: Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Schuld
Magnus Schlette 157
Über Unschuld urteilen: Überlegungen zu einer Szene in Melvilles ›Billy Budd‹
Charles de Roche 169
Der gesellschaftliche Umgang mit Schuld
Strafe als Umgang mit Schuld oder Umgehung der Schuld? Zur Spannung zwischen Strafzweck und Schuldzurechnung
Stephan Stübinger 183
Taterklärung und Schuld: Eine Rekonstruktion von Implikationen kriminologischen Denkens
Ralf Kölbel 201
Schuld und Scham als Kategorien kultureller Taxonomie
Reinhard Schulze 217
Schuld zwischen Individuum und Kollektiv
Aufarbeitung von Schuld: Eine philosophische Auseinandersetzung mit Jaspers und Adorno
Michael Schefczyk 247
An ›Schuld‹ erinnern: Kulturwissenschaftliches Flanieren im ›kollektiven Gedächtnis‹
Andrea Hoffmann 265
Das Vergessen von Schuld: Eine geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Christian Meier am Beispiel des
Act of Oblivion (1660)
Stefano Saracino 283
Zentrierte und diffundierende Schuld: Eine soziologische Perspektive
Valentin Rauer 301
Vergebung entschuldigt nicht: Zur praktischen wie theologischen Problematik der Aufarbeitung von DDR-Unrecht
Curt Stauss 331
Aufarbeitung von Schuld in den internationalen Beziehungen: Überlegungen zum ›erweiterten Schuldbegriff‹
Stefan Engert/Christopher Daase 347
Autorinnen und Autoren 379