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Die kreisende Weltfabrik

Berliner Ansichten und Porträts

Erschienen am 22.08.2012, 1. Auflage 2012
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783887472825
Sprache: Deutsch
Umfang: 127 S., 12 Illustr., Historische Fotos von Berlin
Format (T/L/B): 1.3 x 24 x 14 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Else Lasker-Schüler, 1869 in Elberfeld (Wuppertal) geboren, 1945 in Jerusalem gestorben, lebte seit 1894 in Berlin, schrieb Gedichte, Theaterstücke, Prosa und wurde eine der bekanntesten Figuren der aufregenden zehner und schrillen zwanziger Jahre. 1933 musste sie in die Schweiz emigrieren, seit 1939 lebte sie in Palästina. Für Gottfried Benn war sie 'die größte Lyrikerin des Jahrhunderts'. Ihr Ruhm basiert auf sehr poetischen und phantasiereichen Liebesgedichten, auf ihrer unkonventionellen Lebensweise, auch auf der Fähigkeit, geradezu schwärmerisch auf Personen zuzugehen, die sie als geistesverwandt ansah und dann in Gedichten und Briefen verewigte. Es gibt auch eine andere Seite der Else Lasker-Schüler, die viel zu wenig wahrgenommen wurde und wird: die der genauen Beobachterin des großstädtischen Lebens in Berlin. Es gibt eine Reihe von Prosatexten und Porträts aus den zehner und zwanziger Jahren, also aus der Zeit, in der Else Lasker-Schüler in Berlin lebte, die eine überraschend präzise formulierende Autorin zeigen und das Bild korrigieren, das von vielen Interpreten (à la 'eine ganz nach innen gekehrte Seherin') geprägt wurde. Sie ist hier als Autorin zu entdecken, die ihre soziale Umgebung mit allen Details und Widersprüchen wahrnahm, sie hinreißend genau beschreiben konnte und dann mit ihrer einzigartigen Ausdruckskraft zum Leuchten brachte. In einer manchmal ironischen, manchmal ganz sachlich am Gegenstand (Straßen, Plätze, Bäume, Hotels, Cafés etc.) oder an Personen (Porträts von Zeitgenossen, bekannten wie unbekannten) orientierten Sprache hat Else Lasker-Schüler etwas über die damalige Zeit und das damalige Berlin zu sagen, was über die Feuilletons anderer Autoren dieser Zeit hinausgeht und eine ganz eigene Farbe trägt.

Leseprobe

DIE BEIDEN WEISSEN BÄNKE VOM KURFÜRSTENDAMMMeinem lieben Freunde Andreas MeyerMorgens standen sie plötzlich auf dem Kurfürstendamm wie vom Himmel gefallen in Mondsichelfasson. Die eine weiße Bank winkte den Letzten, die aus der Friedrich-Wilhelm-Gedächtniskirche kamen, freundlich zu, die andere weiße Bank lud eine blonde Schöne ein in aschgrünem Samt. Ich bin seitdem öfters an den weißen Bänken vorbeigegangen; gestern setzte ich mich zum erstenmal auf die eine, den Damm weiter, auf die andere. guckte ich geradeaus, bot sich mir ein Kreuz- und Querbild. Man sieht es vielen Vorbeieilenden an am Operngucker in ihrer Hand, wohin sie wollen - zur Hochbahn - in einer halben Stunde fangen die Theater an. Andere kommen aus der Stadt, biegen um die Joachimsthaler Straße und kehren ein in das heimatliche Café des Westens. Kommen da zwei kleine, arme Mädchen; in ihrer Mitte ihren lebendigen, rotbäckigen Hampelmann, der sprechen kann. 'Zwei Jahre ist er', erzählen sie mir und streiten sich, wer ihn aufwarten, das heißt, wer mir von ihnen seine Kunststücke zeigen wird. 'Wir sind keine Schwestern', antworten die beiden gernegroßen Mütter, sie lassen schon behäbig das Kinn hängen, fürsorglich sind sie um ihren kleinen Kasperle. 'Wir sind jede für uns allein.' Sie meinten damit, sie sind nicht einmal verwandt. Lieschen ist in Pflege, ihr Pflegevater ist Nachtwächter - manchmal legt er sich vor Müdigkeit, wenn er morgens nach Haus kommt, mit dem Bund Schlüsseln und der Laterne ins Bette. Das andere Lieschen, sie heißen beide ganz gleich, erzählt: Sein Vater helfe einem Zauberer. 'Ein schwarzer Neger ist sein Papa!' Es ruft mich jemand von der Haltestelle der Elektrischen, ein Dichter im Florentiner, er will in die Kolonie fahren. 'Reisen Sie alleine, Torquato Tasso, ich will mich noch auf die weiße Schwesternbank setzen.' Ich sehe mich nach ihr um, sie glänzt viel bräutlicher wie diese, von der ich mich erhebe; und ich zögere, mich auf die myrtenweiße niederzusetzen. Aber die beiden Verliebten da bemerken es nicht. Aus der Kirche treten schon die ersten Sonntaglinge, die Sonne spielt Orgel um das Haus mit ihren schlanken Strahlen. Ich verstecke mein Gesicht in dem großen Glockenturm - sehe, höre und denke nichts. und doch findet man sich auf den weißen Bänken wieder, wenn man sich verloren hat.